Von Tönen und Thermik getragen – Kai Rudl gewährt seltene Einblicke

Nachricht Kirchenkreis, 20. September 2025

Manchmal reicht ein einziger Ton, um ein Leben in Schwingung zu versetzen. Bei Kai Rudl war es die Orgel, deren Klang ihn seit seiner Jugend nicht mehr losgelassen hat. Viele Jahre hat er als Kreiskantor den Kirchenkreis Cuxhaven-Hadeln geprägt – nicht nur mit Musik, sondern mit Leidenschaft, Humor und Weitblick. Nun steht sein Ruhestand bevor. Doch wer glaubt, der 66-Jährige würde dann stiller treten, täuscht sich: Musik und Freiheit begleiten ihn weiter – an der Orgel ebenso wie hoch über den Alpen, wie er uns im Interview verrät.

Herr Rudl, wann haben Sie gespürt, dass Musik Ihr Lebensweg wird? Gab es eine Person, ein Erlebnis oder ein Musikstück, das Sie besonders inspiriert hat?
Gespürt habe ich das während meiner Konfirmation, also zwischen 1973 und 1974. Damals hatte ich Orgelunterricht bei Kirchenmusikdirektor Fritz Popp in der Nikolai-Kirche in Flensburg. Er hat mich sehr inspiriert – ebenso die Kirche als spiritueller Raum. Und nicht zuletzt die Orgel. Ich wusste sofort: Das ist ein Bereich, der mich auch beruflich sehr reizen würde.

Und warum sind Sie bei der Orgel hängengeblieben? Kam für Sie nie ein anderes Instrument infrage?
Man nennt die Orgel nicht umsonst die „Königin der Instrumente“. Sie ist – erstens – gebunden an den spirituellen Raum der Kirche und bietet – zweitens – eine ungeahnte klangliche Vielfalt. Die Orgel kann so vieles ausdrücken: die unterschiedlichsten Facetten des menschlichen Lebens wie auch die musikalische Gestalt. Ich spiele außerdem diverse Blechblasinstrumente – damals habe ich beispielsweise Tuba studiert. Dazu kommen Kontrabass und Keyboard.

Gab es ein Stück, das Ihnen besonders schwerfiel, das Sie aber meistern konnten – und würden Sie es heute anders interpretieren?
Am meisten haben mich die Stücke beschäftigt, die ich selbst komponiert habe. In den 2000er Jahren habe ich mich intensiv mit dem russisch-französischen Maler Marc Chagall auseinandergesetzt und versucht, seine Werke in Musik zu fassen. An diesen Kompositionen habe ich lange gearbeitet und bin dabei musikalisch wie persönlich gewachsen.

Nach ein paar Jahren habe ich diese Arbeiten wieder hervorgeholt. Es war eine große Freude, auf diese Weise dem Kai Rudl von damals zu begegnen. Heute gestalte ich differenzierter; damals war eine gewisse lebendige Ungestümheit dabei.

Sie haben viel mit Kindern gearbeitet und wollen dies nach Ihrer Verabschiedung auch weiter tun. Gibt es eine Anekdote, die Sie heute noch zum Schmunzeln bringt?
Da gibt es viele. Eine Geschichte ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben: Einmal hat mir ein Kind beim Hereintragen von Musikutensilien aus meinem Auto in den Probenraum geholfen und dabei laut ausgerufen: „Ich bin jetzt Frau Rudl!“

Sie sind nicht nur leidenschaftlicher Musiker, sondern auch begeisterter Drachenflieger. Wenn Sie über die Berge Sloweniens oder Frankreichs gleiten – welche Gedanken begleiten Sie da?
Ich lasse alles auf mich wirken und habe dabei ein Gefühl von großer Freiheit und tiefer Verbundenheit mit der Natur. Einfach mal über den Dingen schweben, ohne sie dabei kleinzumachen – das ist etwas ganz Besonderes für mich.

Fühlen Sie sich beim Fliegen ähnlich wie beim Musizieren – oder lassen Musik und Fliegen Sie auf unterschiedliche Weise „abheben“?
Es ist kein Abheben, sondern eher eine Verwurzelung - eine wunderbare Möglichkeit, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Und das ist eine Freude. Auch in der Musik bin ich gewissermaßen über den Dingen und erlebe sie auf eine andere, sehr intensive Weise.

Was ist eigentlich nervenaufreibender – ein komplexes Orgelstück oder ein steiler Alpenflug im Wind?
Beides ist sehr reizvoll. „Nervenaufreibend“ ist allerdings das falsche Wort. Es ist vielmehr eine Mischung aus Konzentration und Fokussierung, die mir guttut, die mich fordert und die mir Vitalität gibt – ein Dialog mit kosmischer Energie.

Stellen Sie sich vor, die restaurierte Gloger-Orgel könnte sprechen – welches Geheimnis würde sie über Sie verraten?
Sie würde sagen: Du lässt mich in deiner Musik atmen. Du machst meine Schwingungen erlebbar. Ich lebe durch dich.

Angenommen, Sie dürften eine „musikalische Zeitreise“ unternehmen: Welches Jahrhundert würden Sie besuchen, und welches Stück würden Sie spielen, um die Menschen zu beeindrucken?
Zunächst einmal: Ich möchte niemanden beeindrucken. Wenn ich mit meiner Musik etwas bewirken möchte, dann will ich ein Geschenk weitergeben, das ich selbst erhalten habe. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich würde in die Zukunft reisen. Warum? Wir erleben jetzt schon eine Zeit, in der authentische Realität immer schwerer zu fassen ist – gerade mit Blick auf „alternative Fakten“. Das wird noch zunehmen. Aber  Musik wird etwas bleiben, das wirklich noch erlebbar sein wird, etwas Unvergängliches. Ich möchte den Menschen in der Zukunft mit meiner Musik etwas geben, damit sie sich nicht verlieren und authentisch bleiben.

Was möchten Sie, dass die Menschen nach Ihrer Verabschiedung vom Amt des Kreiskantors über Sie als Musiker und Mensch mitnehmen?
Ich wünsche mir, dass die Menschen wahrnehmen: Musik ist ein Geschenk für alle. Sie lässt uns Dinge erleben, die man mit Worten nicht ausdrücken kann. Musik kennt keine gesellschaftlichen Grenzen. Ich hoffe, man erinnert sich an mich als jemanden, der Musik nähergebracht hat – und damit etwas Schönes vermittelt hat, das in allen Lebenslagen Kraft geben kann.

Andreas Schoener, Referent für Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis-Cuxhaven-Hadeln

Lebenslauf und Gottesdienst zum Abschied

Kai Rudl, geboren 1959 in Flensburg, ist Kirchenmusiker, Komponist und Chorleiter. Nach seinem Studium an der Hochschule für Musik Hamburg prägte er über Jahrzehnte die Kirchenmusik im Kirchenkreis Land Hadeln: seit Februar 1987 Kirchenmusiker in Cadenberge (B-Stelle) und Kreiskantor, seit 2013 mit Ortsanbindung an die Kirchengemeinde St. Severi Otterndorf im fusionierten Kirchenkreis Cuxhaven-Hadeln. Rudl leitete zahlreiche Kirchen- und Gospelchöre, Posaunenchöre sowie Kinder- und Jugendchöre, komponierte etliche Werke für Chor, Orgel und Bläser und begleitete Orgelrestaurierungen – ein vielfältiges Wirken, das die musikalische Landschaft der Region nachhaltig geprägt hat.
Ende September 2025 tritt Kai Rudl in den Ruhestand; seinen offiziellen Abschied wird er am Samstag, 27. September, 17 Uhr, im Rahmen eines Gottesdienstes in der Kirche St. Severi in Otterndorf feiern.