Gottesdienst verstehen - Neue Folge: "Bewegungs-Choreographie"

Das "Auf" und "Nieder" der Gottesdienstgemeinde

Grundsätzlich sollte jeder Gottesdienst an jedem Ort zu jeder Zeit einen einladenden Charakter haben. Die frohe Botschaft, von der im Gottesdienst die Rede ist, lebt davon, dass sie geteilt wird – und das nicht nur mit Insidern. "Mission" wäre an dieser Stelle das richtige Stichwort. 

Jeder Gottesdienst ist auch eine Art von "Mission"

Auch wenn der Gebrauch dieses Begriffes im evangelisch-landeskirchlichen Kontext eher unpopulär ist, beschreibt "Mission" doch zutreffend den Auftrag, den jede Kirchengemeinde auch durch ihre Feier von Gottesdiensten wahrnimmt. Der missionarische Charakter eines Gottesdienstes schlägt sich auch darin nieder, dass er in seiner Gestaltung nicht exklusiv ist, sondern auch diejenigen inkludiert, die (noch) nicht zur Gemeinde gehören.

"Bewegungs-Cchoreographie" ruft manchmal Unsicherheiten hervor

Dem scheint die "Bewegungs-Choreografie" der Gottesdienstgemeinde oft im Wege zu stehen, da sie Unsicherheit und Unbehagen hervorruft bei all jenen, die mit dem gemeindlichen "Auf" und "Nieder" nicht so vertraut sind. Doch nur, wer sich im Gottesdienst sicher und gut aufgehoben fühlt, kann sich auch dem in ihm verkündigten Inhalt öffnen.

Mit dezenten Gesten die Gemeinde sanft durch den Gottesdienst führen

Der Unsicherheit von jenen, die Gottesdienste besuchen, lässt sich auf verschiedene Weise begegnen. Zum einen sind die Liturginnen und Liturgen  eingeladen, mit dezenten Gesten die Gemeinde sanft durch den Gottesdienst zu führen. Auch entsprechende "Regieanweisungen" in einem gedruckten Gottesdienstplan können Sicherheit vermitteln.

Am besten hilft aber ein Verständnis für das kommunikative Geschehen in einem Gottesdienst weiter: Wer redet wann mit wem und was bedeutet das für das Aufstehen und Sich-Wieder-Setzen?
In einem Gottesdienst gibt es drei unterschiedliche Kommunikationsachsen:
1.) Eine absteigende: Gott spricht durch die Schrift zu den Menschen.
2.) Eine aufsteigende: Die Menschen antworten betend zu Gott.
3.) Eine horizontale: Die Menschen sprechen untereinander zu ihres Gleichen. Aus diesen Kommunikationsachsen ergeben sich denn auch die Regeln für das Sich-Erheben in einem Gottesdienst. 

In diesen Fällen erhebt sich die Gemeinde

Elemente der horizontalen Kommunikation sind Begrüßung und Abkündigungen. Hier bleibt die Gemeinde sitzen, weil Gleiche zu Gleichen reden. Doch wenn die Kommunikationsrichtung absteigend ("katabatisch") oder aufsteigend ("anabatisch") ist, erhebt sich die Gemeinde und folgt dabei den Regeln kultivierter Umgangsformen: Wann immer Gott als die höhergestellte "Persönlichkeit" zu mir spricht oder ich zu ihm spreche, erhebe ich mich aus Respekt gegenüber dem Schöpfer des Himmels und der Erden – soweit mir dies körperlich möglich ist.

Den Schriftlesungen wird im Stehen gefolgt

Da Gott nach protestantischem Verständnis zu uns Menschen allein durch die Schrift spricht (sola scriptura), folgt die Gemeinde den Schriftlesungen im Stehen. Betet der Mensch zu Gott im Tagesgebet, bei einem Kausalgebet, in den Fürbitten und dem Vaterunser, erhebt er sich ebenfalls aus Respekt gegenüber dem Allmächtigen.

Sitzend fällt es leichter, der Kanzelrede mit Herz und Ohr zu lauschen

Grundsätzlich ist auch die Predigt als originärer Moment der Verkündigung des Evangeliums ein katabatischer Sprechakt. Dennoch bleibt gerade die evangelische Gemeinde seit der Einführung des Laien-Gestühls im 16. Jahrhundert bei der Predigt sitzen, weil das Hören des Evangeliums im Zentrum des protestantischen Gottesdienstes steht und es dem Menschen nun mal sitzend leichter fällt, der Kanzelrede mit Ohr und Herz zu lauschen. 

Gott selbst ist es, der den Segen spendet

Zu den katabatischen Sprechrichtungen gehört auch der Schlusssegen, da er nicht von der Liturgin oder dem Liturgen gespendet, sondern "nur" zugesprochen wird. Gott selbst ist es, der den Segen spendet, weswegen die Gemeinde diesen stehend empfängt.

Axel Scholz, Pastor in Otterndorf, Osterbruch und Neuenkirchen

Weiterlesen: In der nächsten Folge geht's um das "Amen" in der Kirche

Literatur zu diesem Thema

Jochen Arnold: Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Dogmatik (VLH 39) / mit 9 Notenbeispielen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2004, S. 17-22. – Dieses Werk ist 2020 in 3., aktualisierter Auflage in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienen unter dem Titel: "Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Liturgie / mit 9 Notenbeispielen".